Das immaterielle Kulturerbe auflisten…

Mit der Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (IKE) im Jahr 2008 hat sich die Schweiz verpflichtet, ein Inventar des immateriellen Kulturerbes der Schweiz zu erstellen und dieses laufend zu aktualisieren.

Die sogenannte Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz wurde kürzlich aktualisiert und enthält heute 199 Elemente. Der Bundesrat hat 2014 acht davon auf eine Vorschlagsliste gesetzt. Diese Liste enthält die Schweizer Kandidaturen, die der UNESCO nach und nach für eine Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit unterbreitet werden. Diese Liste umfasst gegenwärtig 429 eingetragene Elemente und wird jährlich um rund dreissig erweitert. Die «Fête des Vignerons» war das erste schweizerische Element, das 2016 auf diese repräsentative Liste gesetzt wurde.

Aber auch die Kantone erstellen Listen, die ihr Engagement und Interesse in diesem Bereich widerspiegeln. Während sich einige für ein Inventar mit wenigen Einträgen entschieden, wählten andere einen weniger restriktiven Ansatz: Uri und Freiburg haben über 50 Elemente eingetragen, die Waadt über 60 und Bern sogar 160.

Angesichts der vielen Listen ist es nicht einfach, den Überblick zu wahren. Daher dürfen wir der Öffentlichkeit und den Medien auch keinen Vorwurf machen, wenn sie alle möglichen Traditionen als UNESCO-Kulturerbe betrachten. Das Interesse der Öffentlichkeit und der Länder an einer Zunahme der Einträge ist nicht unproblematisch. Dem Anspruch, hochwertige Informationen zu verbreiten, die auf nachgewiesenen Recherchen beruhen, und im Sinne der betroffenen Personen zu handeln, sind Grenzen gesetzt.

Mit dem Eintrag in einer Liste erwachsen dem Träger der Tradition noch keine Rechte. Die Liste ist jedoch der erste Schritt für eine Anerkennung eines immateriellen Kulturerbes und stellt folglich eine erste Auszeichnung dar. Erst wenn ein Brauch, ein Handwerk oder eine Musik zum kulturellen Objekt wird, wird daraus ein Element des immateriellen Kulturerbes – und vielleicht bald ein sogenanntes Produkt. In diesem Fall braucht es eine Organisation, die die Träger vertritt. Ob auf Ebene Verein, Gemeinde, Kanton oder Vertragsstaat des Übereinkommens, die Auswahlkriterien müssen in jedem Fall mit den innen- und aussenpolitischen Erfordernissen übereinstimmen. Der Prozess entzieht sich nicht den wirtschaftlichen, touristischen oder gesellschaftlichen Zielen und wirft unweigerlich die Frage nach der Form der nationalen Selbstdarstellung auf.

Auch Umberto Eco befasste sich mit Listen. Auf dem Klappentext der französischen Ausgabe seines Buchs «Vertigine della lista» (Vertige de la liste, Verlag Flammarion, 2009) ist zu lesen: «Il y a des listes pratiques et finies, comme celles qui recensent les livres d’une bibliothèque; et il y a celles qui suggèrent l’incommensurable et nous font ressentir le vertige de l’infini». Obwohl es Bemühungen gibt, die Anzahl solcher Listen zu begrenzen – von Seiten der UNESCO, des Bundes und der Kantone –, hoffen wir doch, dass die Listen des immateriellen Kulturerbes zu den unersättlichen und schwindelerregenden Listen gehören, den Listen, die entschieden zur Endlosigkeit neigen. Diese Fülle, aber auch die Vielfalt der Vorgehensweisen und Kriterien auf jeder Ebene sind eine Gewähr dafür, dass lebendige Kulturen immer Räume finden, um zu überraschen und sich neu zu erfinden.

Isabelle Raboud-Schüle, Mitglied der Schweizerischen UNESCO-Kommission

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