Digitale Zukunft und Homo Numericus
In einer Zeit der vollständigen Digitalisierung, permanenten Hyperkonnektivität, exzessiven Automatisierung und kommerziellen Globalisierung leben wir nicht mehr mit dem Computer. Wir lernen vielmehr, in der Welt des Computers zu leben, indem wir uns technologischen Zwängen fügen, sie ertragen – ein bisschen wie beim Passivrauchen.
Je mehr wir online sind, desto mehr führen wir eine Hors-Sol-Existenz, entfernen uns vom Leben und entkoppeln uns von der lebendigen Realität. Wenn uns virtuelle Welten lebendiger erscheinen als die reale Welt, entfernen wir uns immer stärker von dieser Welt. Je mehr wir glauben, dass Technologie unsere Bedürfnisse mit personalisierten Dienstleistungen befriedigt, desto mehr ersetzen Algorithmen menschliches Handeln in Entscheidungs- und Realisierungsprozessen und desto stärker werden wir unseren menschlichen Schwächen bewusst. So gestehen wir uns bisweilen unterschwellig ein, dass der Mensch überflüssig wird. Ist die Zeit der vorprogrammierten Obsoleszenz des Menschen bereits da?
Wollen wir uns wirklich wie Zombies von E-Dingsbums und Smart-Dingsda fernsteuern lassen? Von Dingen, die uns zu gläsernen Wesen ohne jegliche Entscheidungsfreiheit machen?
Lassen wir uns von technologischem Blendwerk täuschen, süchtig machenden Vergnügungen einlullen, von der Mühelosigkeit und Bequemlichkeit verführen, die uns die digitalen Helfer immerfort verschaffen?
Die Agentur Bloomberg veröffentlichte am 21. Dezember 2017 einen Artikel mit dem Titel „How Tech Companies Own Your Day“1. Er veranschaulicht anhand zahlreicher Tabellen und Grafiken, wie stark unsere täglichen Verrichtungen von Anbietern wie Google, Apple, Samsung, Microsoft, Amazon und Facebook beeinflusst werden. John Connally, Finanzminister unter US-Präsident Nixon, prägte den Satz: «Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem». In Bezug auf die Tech-Giganten könnte man diese Devise so umformulieren: «Die Daten sind unsere Währung, aber euer Problem». Somit stellt sich die Frage, wie wir die Kontrolle über unsere Daten und Geräte, die unser Umfeld und unser Leben bestimmen, zurückerlangen können, bevor dieser Leitsatz zum Sinnbild für den Verlust unserer digitalen Souveränität wird.
Wird es uns gelingen, der totalitären Herrschaft einer durch und durch digitalen Gesellschaft, die permanent online ist, zu entkommen? Ein aufgezwungenes Gesellschaftsmodell, das wir implizit akzeptieren, dem wir uns unterwerfen, zu dessen Ausbau wir beitragen. Ein Modell, das das Konzipieren und Realisieren von Alternativen unterdrückt, weil auch unsere Fantasie von Technologien vereinnahmt wurde.
Können wir den technologischen Fortschritt in einen sozialen und politischen Fortschritt umwandeln?
Werden wir den Mut, den Willen und die Kraft haben, uns unsere Freiheit und unser Privatleben zurückzuholen, damit wir nicht Sklaven der Technologien und deren Erfinder, Hersteller und Vertreiber sind?
Wird es uns gelingen, das Schicksal unseres menschlichen Daseins in die Hand zu nehmen, bevor es kein Zurück mehr gibt? Damit die Utopie der Wissensgesellschaft nicht zu einer Welt von digitalen Deppen, von gefügigen Vasallen wird, welche von einer erdrückenden Technik entfremdet sind und dennoch Gefallen finden an digitalen Perfusionen und freiwilliger Ergebenheit.
Möge das Jahr 2018 das Gewissen der Menschen aufrütteln, denn es geht um viel und die Zeit drängt.
Solange Ghernaouti, Mitglied der Schweizerischen UNESCO-Kommission
- Weitere Informationen zu den Aktivitäten der UNESCO in diesem Gebiet:
Auf der Website der World Commission on the Ethics of Scientific Knowledge and Technology (COMEST) finden Sie den Bericht über die Roboterethik.